Poesie

Rainer Schwing

Beratung . Coaching . Psychotherapie

Und manchmal braucht es Poesie

Der Sturm
Steht ein Rosenstrauch in deinem Garten
und er ist noch gar nicht grün.
Und du kannst es kaum erwarten,
dass die erste Knospe komme, zart und dünn,
und dass sie verkünde neues Leben.
Wartest, wartest voller Angst und Beben,
bis ein Morgen kommt – und sie ist da.

Und sie ist so fein und schlank und hell,
ganz geschlossen noch und kaum gesehn
und du möchtest, dass sie aufbricht, ganz, ganz schnell,
da du weißt, wie rasch die Zarten untergehn.
Doch es enteilt ein Tag und es enteilt ein zweiter
und die Himmel werden blauer, werden weiter
und die Knospe bricht nicht auf.

Und du weißt: wenn jetzt ein Frost kommt, stirbt sie,
stirbt und hat das Leben nicht gelebt.
Möchtest gerne helfen und weißt doch nicht wie,
fürchtest sehr, dass nicht ein Wind sich hebt,
der sie dir vom Stamme bricht –
in der Nacht, du schläfst und siehst es nicht,
und sie ist bei Tag schon tot.

Kommt dann eine Nacht, und Stürme brausen um dein Haus,
um dein Haus, mit den verschlossnen Toren.
Und du bäumst dich auf und willst und willst hinaus
und dir klingt's wie Wimmern in den Ohren.
Endlich bist du draußen – und du siehst den Rosenstrauch dir an –
Sieh – es ist die Knospe aufgebrochen.
Was die Sonne nicht vermocht' in langen Wochen,
hat ein einz'ger Sturm getan.

Selma Meerbaum-Eisinger






Es ist ganz stille
Es ist ganz stille. Aufrecht steht der Duft
vergangner Farben in den welken Wegen.
Die Himmel halten einen langen Regen
die Blätter gehn auf Stufen durch die Luft

Rainer Maria Rilke


Nietzsche und Lao Tse über Wohlwollen und Güte
Unter die kleinen, aber zahllos häufigen und deshalb sehr wirkungsvollen Dinge, auf welche die Wissenschaft mehr Acht zu geben hat, als auf die großen seltenen Dinge, ist auch das Wohlwollen zu rechnen; ich meine jene Äußerungen freundlicher Gesinnung im Verkehr, jenes Lächeln des Auges, jene Händedrücke, jenes Behagen, von welchem für gewöhnlich fast alles menschliche Thun umsponnen ist.

...namentlich im engsten Kreise, innerhalb der Familie, grünt und blüht das Leben nur durch dieses Wohlwollen.

Die Gutmütigkeit, die Freundlichkeit, die Höflichkeit des Herzens sind immerquellende Ausflüsse des unegoistischen Triebes und haben viel mächtiger an der Cultur gebaut, als jene viel berühmteren Äußerungen desselben, die man Mitleiden, Barmherzigkeit und Aufopferung nennt. Aber man pflegt sie gering zu schätzen.

Die Summe dieser Dosen ist trotzdem gewaltig, ihre gesamte Kraft gehört zu den stärksten Kräften. Ebenso findet man viel mehr Glück in der Welt, als trübe Augen sehen: wenn man nämlich richtig rechnet, und nur alle jene Momente des Behagens, an welchen jeder Tag in jedem, auch dem bedrängtesten Menschenleben, reich ist, nicht vergisst.

Nietzsche: Menschliches, Allzumenschliches

 

"Güte in den Worten erzeugt Vertrauen, Güte beim Denken erzeugt Tiefe,
Güte beim Verschenken erzeugt Liebe."

Lao-tse




Schale der Liebe
Wenn du vernünftig bist, erweise dich als Schale und
nicht als Kanal, der fast gleichzeitig empfängt und
weitergibt, während jene wartet, bis sie gefüllt ist.

Auf diese Weise gibt sie das, was bei ihr überfließt,
ohne eigenen Schaden weiter.

Lerne auch du, nur aus der Fülle auszugießen, und
habe nicht den Wunsch, freigiebiger zu sein als Gott.

Die Schale ahmt die Quelle nach.
Erst wenn sie mit Wasser
gesättigt ist, strömt sie zum Fluss, wird sie zur See.

Du tue das Gleiche! Zuerst anfüllen und dann
ausgießen. Die gütige und kluge Liebe ist gewohnt
überzuströmen, nicht auszuströmen.

Ich möchte nicht reich werden,
wenn du dabei leer wirst.
Wenn du nämlich mit dir selber schlecht umgehst,
wem bist du dann gut?

Wenn du kannst, hilf mir aus deiner Fülle;
Wenn nicht, schone dich.

Bernhard von Clairvaux